Misshandlung und Hunger
Der tägliche Kampf ums Überleben
Ich spürte damals, dass der Täter mich mit körperlicher Gewalt nicht brechen konnte. Wenn er mich die Treppen zum Verlies hinunterschleifte, mein Kopf auf jeder Stufe aufschlug und meine Rippen Prellungen davontrugen, dann war es nicht ich, die er ins Dunkel auf den Boden warf. Wenn er mich gegen die Wand drückte und würgte, bis mir schwarz vor Augen wurde, war es nicht ich, die um Luft rang. Ich war weit weg, an einem Ort, an dem er mich selbst mit seinen schlimmsten Tritten und Schlägen nicht berühren konnte.
MEINE KINDHEIT WAR VORBEI, als ich mit zehn Jahren entführt wurde. Meine Zeit als Kind im Verlies endete im Jahr 2000. Eines Morgens wachte ich mit ziehenden Schmerzen im Unterleib auf und entdeckte Blutflecken auf meinem Schlafanzug. Ich wusste sofort, was los war. Ich hatte schon Jahre auf meine Regel gewartet. Aus der Werbung, die der Täter nach manchen Serien mit aufgenommen hatte, kannte ich eine bestimmte Marke von Monatsbinden, die ich haben wollte. Als er ins Verlies kam, bat ich ihn so abgeklärt wie möglich, einige Packungen für mich zu kaufen.
Der Täter war angesichts dieser Entwicklung zutiefst verunsichert, sein Verfolgungswahn erreichte eine neue Stufe. Hatte er bislang schon penibel jeden Fussel aufgepickt, jeden einzelnen Fingerabdruck hektisch weggewischt, um wirklich alle Spuren von mir zu beseitigen, achtete er nun beinahe hysterisch darauf, dass ich mich oben im Haus nirgends hinsetzte. Wenn ich doch einmal sitzen durfte, legte er mir Stapel von Zeitungen unter, im absurden Bemühen, noch den kleinsten Blutfleck in der Wohnung zu verhindern. Er rechnete nach wie vor täglich damit, dass die Polizei auftauchen und sein Haus nach DNA-Spuren durchsuchen würde.
Ich fühlte mich durch sein Verhalten persönlich angegriffen und kam mir vor wie eine Aussätzige. Es war eine verwirrende Zeit, in der ich dringend meine Mutter oder eine meiner älteren Schwestern gebraucht hätte, um über diese körperlichen Veränderungen zu sprechen, mit denen ich so plötzlich konfrontiert war. Aber mein einziger Ansprechpartner war ein Mann, der damit heillos überfordert war. Der mich behandelte, als wäre ich schmutzig und abstoßend. Und der offenbar noch nie mit einer Frau zusammengelebt hatte.
Sein Verhältnis zu mir änderte sich mit dem Einsetzen der Pubertät deutlich. Solange ich noch ein Kind gewesen war, »durfte« ich in meinem Verlies bleiben und mich im eng gesteckten Rahmen seiner Vorgaben um mich kümmern. Nun, als heranwachsende Frau, musste ich ihm zu Diensten sein und unter strenger Aufsicht Arbeiten im und am Haus übernehmen.
Ich fühlte mich oben im Haus wie in einem Aquarium. Wie ein Fisch in einem zu kleinen Behälter, der sehnsüchtig nach draußen sieht, aber nicht aus dem Wasser springt, solange er in seinem Gefängnis noch überleben kann. Denn die Grenze zu überschreiten bedeutet den sicheren Tod.
Die Grenze zum Außen war so absolut, dass sie mir unüberwindbar schien. Als hätte das Haus einen anderen Aggregatzustand als die Welt außerhalb seiner biederen, gelben Mauern. Als befänden sich das Haus, der Garten, die Garage mit dem Verlies auf einer anderen Matrix. Manchmal wehte eine Ahnung von Frühling durch ein gekipptes Fenster herein. Ab und zu hörte ich entfernt ein Auto durch die ruhige Straße fahren. Sonst war von der Außenwelt nichts zu spüren. Die Jalousien waren immer heruntergelassen, das ganze Haus war in Dämmerlicht getaucht. Die Alarmanlagen an den Fenstern waren aktiviert - zumindest war ich davon überzeugt. Es gab immer noch Momente, in denen ich an Flucht dachte. Aber ich wälzte keine konkreten Pläne mehr. Der Fisch springt nicht über den Glasrand, dort lauert nur der Tod. Die Sehnsucht nach Freiheit blieb.
Ich stand nun unter andauernder Beobachtung. Ich durfte keinen einzigen Schritt tun, ohne dass er mir vorher befohlen wurde. Ich musste so stehen, sitzen oder gehen, wie der Täter es wollte. Ich musste fragen, wenn ich aufstehen oder mich setzen wollte, bevor ich den Kopf drehte oder die Hand ausstreckte. Er schrieb mir vor, wohin ich den Blick richten durfte, und begleitete mich selbst auf die Toilette. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Die Zeit allein im Verlies oder die Zeit, in der ich keine Sekunde mehr allein war.
Die permanente Beobachtung verstärkte mein Gefühl, in einem wahnsinnigen Experiment gelandet zu sein. Die Atmosphäre im Haus intensivierte diesen Eindruck zusätzlich. Hinter seiner bürgerlichen Fassade wirkte es, als sei es aus Zeit und Raum herausgefallen. Leblos, unbewohnt, wie eine Kulisse für einen düsteren Film. Von außen hingegen fügte es sich perfekt in die Umgebung ein: spießig, außerordentlich gepflegt, mit dichten Hecken um den großen Garten sorgsam von den Nachbarn abgeschirmt. Neugierige Blicke unerwünscht.
Strasshof ist ein gesichtsloser Ort ohne Geschichte. Ohne Ortskern und ohne dörflichen Charakter, den man bei einer Einwohnerzahl von heute rund 9000 Menschen erwarten könnte. Nach dem Ortsschild ziehen sich die Häuser geduckt im flachen Marchfeld an einer Durchgangsstraße und der Bahnlinie entlang, immer wieder durchbrochen von Gewerbegebieten, wie sie sich im billigen Umland jeder Großstadt finden. Schon der vollständige Ortsname - Strasshof an der Nordbahn - legt nahe, dass es sich hier um eine Siedlung handelt, die von der Anbindung an Wien lebt. Man fährt von hier weg, man fährt hier durch, aber ohne Grund nicht hierher. Die einzigen Attraktionen des Ortes sind eine »Denkmallokomotive« und ein Eisenbahnmuseum namens »Heizhaus«. Vor hundert Jahren wohnten nicht einmal fünfzig Menschen hier, die heutigen Bewohner arbeiten in Wien und kehren nur zum Schlafen in ihre Einfamilienhäuser zurück, die sich monoton aneinanderreihen. Am Wochenende surren die Rasenmäher, die Autos werden poliert, und die gute Stube bleibt hinter zugezogenen Stores und Jalousien im Halbdunkel versteckt. Hier zählt die Fassade, nicht der Blick dahinter. Ein perfekter Ort, um ein Doppelleben zu führen. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen.
Das Haus selbst hatte einen Grundriss, der typisch war für einen Bau aus den frühen 1970er Jahren. Im Erdgeschoss ein langer Gang, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte, links Bad und Toilette, rechts das Wohnzimmer, am Ende des Ganges die Küche. Ein länglicher Raum, links eine Küchenzeile mit rustikalen Fronten aus nachgebildetem, dunklem Holz, am Boden Fliesen mit orange-braunem Blumenmuster. Ein Tisch, vier Stühle mit Stoffbezug, Prilblumenhaken an den grauweißen Wandfliesen mit den dunkelgrünen Zierblumen neben der Spüle.
Das Auffälligste war eine Fototapete, die sich über die rechte Wandseite spannte. Ein Birkenwald, grün, mit schlanken Bäumen, die sich nach oben reckten, als wollten sie der drückenden Atmosphäre des Raumes entfliehen. Als ich sie das erste Mal bewusst wahrnahm, kam es mir grotesk vor, dass jemand, der jederzeit hinaus in die Natur gehen konnte, der jederzeit das Leben spüren konnte, sich mit künstlicher, toter Natur umgibt. Während ich verzweifelt versuchte, Leben in meinen toten Raum im Verlies zu holen. Und sei es nur in Form von ein paar abgezupften Blättern.
Ich weiß nicht, wie oft ich den Boden und die Fliesen in der Küche geschrubbt und poliert habe, bis sie makellos glänzten. Nicht die kleinste Wischspur, nicht der kleinste Krümel durfte die glatten Flächen trüben. Wenn ich glaubte, fertig zu sein, musste ich mich auf den Boden legen, um aus dieser Perspektive auch den hintersten Winkel kontrollieren zu können. Der Täter stand dabei immer hinter mir und gab Anweisungen. Es war ihm nie sauber genug. Unzählige Male nahm er mir den Lappen aus der Hand und zeigte mir, wie man »richtig« putzt. Er rastete jedes Mal aus, wenn ich eine schöne glatte Oberfläche mit einem fettigen Fingerabdruck beschmutzt hatte. Und damit die Fassade des Unberührten, Reinen zerstört hatte.
Am schlimmsten aber war es für mich, das Wohnzimmer zu putzen. Ein großer Raum, der eine Düsternis ausstrahlte, die nicht nur von den heruntergelassenen Jalousien kam. Eine dunkle, fast schwarze Kassettendecke, dunkle Wandpaneele, eine grüne Couchgarnitur aus Leder, hellbrauner Teppichboden. Ein dunkelbraunes Bücherregal, in dem Titel standen wie »Das Urteil« oder »Nur Puppen haben keine Tränen«. Ein unbenutzter Kamin mit Schürhaken, auf einem Sims darüber eine Kerze auf einem schmiedeeisernen Ständer, eine Standuhr, der Miniaturhelm einer Ritterrüstung. Zwei mittelalterliche Porträts an der Wand über dem Kamin.
Wenn ich mich länger in diesem Raum aufhielt, hatte ich das Gefühl, die Düsternis würde durch meine Kleider in jede Pore meines Körpers dringen. Das Wohnzimmer schien mir wie die perfekte Spiegelung der »anderen« Seite des Täters. Spießig und angepasst an der Oberfläche, die dunkle Ebene darunter nur dürftig überdeckend.
Heute weiß ich, dass Wolfgang Priklopil in diesem Haus, das seine Eltern in den 1970er Jahren gebaut hatten, über Jahre kaum etwas verändert hatte. Nur das obere Stockwerk, in dem sich drei Zimmer befanden, wollte er komplett renovieren und den Dachboden nach seinen Vorstellungen ausbauen. Eine Dachgaube sollte für zusätzliches Licht sorgen, der staubige Dachboden mit seinen nackten Holzbalken an der schrägen Decke mit Rigips-Platten verschalt und in einen Wohnraum umgewandelt werden. Für mich begann damit in zweifacher Hinsicht ein neuer Abschnitt meiner Gefangenschaft.
Die nächsten Monate und Jahre sollte die Baustelle im Obergeschoss der Ort sein, an dem ich die meiste Zeit des Tages verbrachte. Priklopil selbst hatte damals keine geregelte Arbeit mehr, nur manchmal verschwand er, um mit seinem Freund Holzapfel »Geschäften« nachzugehen. Ich habe erst später erfahren, dass sie Wohnungen renovierten, um sie dann zu vermieten. Doch die Auftragslage kann nicht besonders gut gewesen sein, denn die meiste Zeit beschäftigte sich der Täter mit der Renovierung seines eigenen Hauses. Ich war seine einzige Arbeiterin. Eine Arbeiterin, die er bei Bedarf aus dem Verlies holen konnte, die Knochenarbeit verrichten musste, für die man normalerweise Fachkräfte kommen ließ, und die er »nach Feierabend« noch zum Kochen und Putzen nötigte, bevor er sie wieder in den Keller sperrte.
Ich war damals eigentlich noch viel zu jung für all die Arbeiten, die er mir aufbürdete. Wenn ich heute zwölfjährige Kinder sehe, wie sie jammern und sich sträuben, wenn ihnen kleine Aufgaben übertragen werden, muss ich jedes Mal lächeln. Ich gönne ihnen diesen kleinen Akt des Widerstands so sehr. Ich hatte diese Möglichkeit nicht: Ich musste gehorchen.
Der Täter, der keine fremden Handwerker im Haus haben wollte, übernahm den gesamten Ausbau selbst und zwang mich, Dinge zu tun, die meine Kraft bei weitem überstiegen. Ich schleppte mit ihm zusammen Marmorplatten und schwere Türblätter, zerrte Zementsäcke über den Boden, stemmte Beton mit Stemmeisen und Vorschlaghammer auf Wir bauten die Gaube ein, dämmten und verschalten die Wände, trugen Estrich auf. Wir verlegten Heizungsrohre und Stromkabel, verputzten die Rigipsplatten, schlugen einen Durchbruch vom ersten Stock in das neue Dachgeschoss und bauten einen Treppenaufgang mit Marmorfliesen.
Dann kam das obere Stockwerk an die Reihe. Der alte Boden wurde herausgerissen, ein neuer verlegt. Die Türen wurden ausgehängt, die Türstöcke abgeschliffen und neu gestrichen. Die alten, braunen Fasertapeten mussten in der gesamten Etage von den Wänden gerissen, neue angebracht und gestrichen werden. In die Dachgaube bauten wir ein neues Badezimmer mit Marmorfliesen ein. Ich war Hilfsarbeiterin und Leibeigene in einer Person: Ich musste schleppen helfen, Werkzeuge reichen, schaben, stemmen, malen. Oder auch stundenlang regungslos die Schüssel mit der Spachtelmasse halten, während er die Wände glattstrich. Wenn er eine Pause machte und sich setzte, musste ich ihn mit Getränken versorgen.
Die Arbeit hatte ihre guten Seiten. Nach zwei Jahren, in denen ich mich in meinem winzigen Raum kaum bewegen konnte, genoss ich die erschöpfende körperliche Betätigung. Die Muskeln an meinen Armen wuchsen, ich fühlte mich stark und nützlich. Vor allem genoss ich es anfangs, dass ich nun unter der Woche mehrere Stunden am Tag außerhalb des Verlieses verbringen konnte. Die Mauern um mich herum waren zwar oben nicht weniger unüberwindbar, auch die unsichtbare Leine war stärker denn je zuvor. Aber zumindest hatte ich Abwechslung.
Gleichzeitig war ich oben im Haus der üblen, dunklen Seite des Täters schutzlos ausgesetzt. Ich hatte ja schon bei dem Zwischenfall mit der Bohrmaschine die Erfahrung gemacht, dass er zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigte, wenn ich »nicht brav« war. Im Verlies hatte es dazu kaum Gelegenheit gegeben. Doch nun, beim Arbeiten, konnte ich in jeder Sekunde einen Fehler machen. Und Fehler mochte der Täter nicht.
»Gib mir die Spachtel«, sagte er an einem unserer ersten Tage auf dem Dachboden. Ich reichte ihm das falsche Werkzeug. »Du bist echt zu deppert zum Scheißen!«, brach es aus ihm heraus. Seine Augen wurden von einer Sekunde zur nächsten ganz dunkel, als ob sich eine Wolke vor die Iris geschoben hätte. Sein Gesicht verzerrte sich. Er griff nach einem Zementsack, der neben ihm lag, hob ihn an und warf ihn mit einem Schrei nach mir. Der schwere Sack traf mich völlig unvorbereitet und mit voller Wucht, so dass ich für einen Moment ins Taumeln geriet.
Innerlich erstarrte ich. Es war nicht so sehr der Schmerz, der mich so schockierte. Der Sack war schwer, und der Aufprall tat weh, aber das hätte ich wegstecken können. Es war das schiere Ausmaß an Aggression, die aus dem Täter herausgebrochen war, das mir den Atem nahm. Er war ja der einzige Mensch in meinem Leben, ich war völlig von ihm abhängig. Dieser Wutausbruch bedrohte mich auf eine ganz existentielle Weise. Ich fühlte mich wie ein geprügelter Hund, der die Hand, die ihn schlägt, trotzdem nicht beißen darf, weil es die gleiche ist, die ihn füttert. Der einzige Ausweg, der mir blieb, war die Flucht in mein Inneres. Ich schloss die Augen, blendete alles aus und rührte mich nicht von der Stelle.
Der Aggressionsschub des Täters war genauso schnell vorüber, wie er gekommen war. Er kam zu mir, schüttelte mich, versuchte meine Arme zu heben und kitzelte mich. »Hör doch auf, es tut mir leid«, sagte er, »das war doch nicht so schlimm.« Ich blieb mit geschlossenen Augen stehen. Er zwickte mich in die Seite und schob mit seinen Fingern meine Mundwinkel nach oben. Ein gequältes Lächeln, im wahrsten Sinne des Wortes. »Sei doch wieder normal. Es tut mir leid. Was kann ich denn machen, damit du wieder normal bist?«
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, reglos, schweigend, mit geschlossenen Augen. Irgendwann aber siegte der kindliche Pragmatismus. »Ich will ein Eis und Gummibärchen!«
Halb nützte ich die Situation aus, um an Süßigkeiten zu kommen. Halb wollte ich den Angriff mit meiner Forderung unbedeutender machen, als er war. Ich bekam das Eis sofort, abends brachte er mir die Gummibärchen. Er beteuerte noch einmal, dass es ihm leidtue und dass so etwas nicht wieder vorkommen würde - wie das wohl jeder prügelnde Mann seiner Ehefrau, seinen Kindern gegenüber auch tut.
Doch nach dieser Entgleisung schien ein Bann gebrochen. Er begann, mich regelmäßig zu misshandeln. Ich weiß nicht, welcher Schalter damals gekippt ist oder ob er ganz einfach glaubte, sich in seiner Allmacht alles erlauben zu können. Die Gefangenschaft dauerte nun schon über zwei Jahre. Er war nicht entdeckt worden und hatte mich so gut im Griff, dass ich nicht weglaufen würde. Wer sollte sein Verhalten denn schon sanktionieren? Er hatte in seinen Augen doch das Recht, Ansprüche an mich zu stellen, und mich, wenn ich sie nicht sofort erfüllte, körperlich zu bestrafen.
Von da an reagierte er schon auf die kleinsten Unaufmerksamkeiten mit heftigen Wutanfällen. Ein paar Tage nach dem Vorfall mit dem Zementsack sollte ich ihm eine Gipsfaserplatte reichen. Ich war seiner Meinung nach zu langsam - er packte meine Hand drehte sie um und rieb sie so heftig über eine der Fermacellplatten, bis ich auf dem Handrücken eine Brandwunde hatte, die jahrelang nicht verheilte: Immer wieder scheuerte der Täter die Wunde auf - an der Wand, an den Gipsfasersplatten, selbst an der glatten Oberfläche des Waschbeckens konnte er meinen Handrücken so brutal reiben, dass das Blut durch die Haut sickerte. Bis heute ist diese Stelle an meiner rechten Hand rau.
Als ich ein anderes Mal zu langsam auf eine seiner Anweisungen reagierte, warf er ein Stanleymesser gezielt nach mir. Die scharfe Klinge, mit der man Teppichböden wie ein Stück Butter zerschneiden kann, bohrte sich in mein Knie und blieb stecken. Der Schmerz fuhr so brutal durch mein Bein, dass mir übel wurde. Ich fühlte, wie mir das Blut das Schienbein hinunterrann. Als er das sah, brüllte er wie von Sinnen: »Lass das, du machst Flecken!« Dann packte er mich und schleppte mich ins Badezimmer, um die Blutung zu stillen und die Wunde zu verbinden. Ich stand völlig unter Schock und bekam kaum Luft. Er klatsche mir ungehalten kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr mich an: »Hör auf zu heulen.«
Hinterher bekam ich wieder ein Eis.
Bald begann er, mich auch bei der Hausarbeit zu traktieren. Er saß im Wohnzimmer in seinem Ledersessel und sah mir zu, wie ich auf dem Boden kniete und wischte, und kommentierte jede meiner Handbewegungen mit abfälligen Bemerkungen.
»Du bist sogar zu dumm zum Putzen.«
»Du kannst ja nicht einmal einen Fleck wegwischen.«
Ich starrte stumm auf den Boden, innerlich kochend, äußerlich putzte ich mit doppelter Energie weiter. Doch auch das genügte nicht. Ohne Vorwarnung kassierte ich plötzliche Tritte in die Seite oder ans Schienbein. Bis alles glänzte.
Als ich einmal mit dreizehn Jahren die Küchenplatte nicht schnell genug säuberte, trat er mir so heftig gegen das Steißbein, dass ich gegen die Kante schleuderte und mir die Haut an den Hüftknochen aufplatzte. Obwohl ich stark blutete, schickte er mich ohne Pflaster, ohne Verband ins Verlies, ungehalten über die Belästigung durch die klaffende Wunde. Es dauerte Wochen, bis sie verheilt war, auch weil er mich immer wieder in der Küche gegen die Kante stieß. Unerwartet, beiläufig, gezielt. Wieder und wieder riss die dünne Haut auf, die sich über der Wunde auf meinen Hüftknochen gebildet hatte.
Am wenigsten ertrug er es, wenn ich vor Schmerzen weinte. Dann ergriff er meinen Arm und wischte mir mit dem Handrücken so brutal die Tränen aus dem Gesicht, bis ich vor Angst aufhörte. Wenn das nichts nützte, packte er mich an der Gurgel, schleppte mich zum Waschbecken und drückte mich hinein. Er presste mir die Luftröhre zusammen und rieb mein Gesicht mit kaltem Wasser ab, bis ich fast die Besinnung verlor. Er hasste es, mit den Folgen seiner Misshandlungen konfrontiert zu werden. Tränen, blaue Flecken, blutende Wunden, nichts davon wollte er sehen. Was man nicht sehen kann, ist auch nicht passiert.
Es waren keine systematischen Schläge, mit denen er mich traktierte und auf die ich mich in gewisser Weise hätte einstellen können, sondern plötzliche Ausbrüche, die immer heftiger verliefen. Vielleicht, weil er bei jeder Grenze, die er überschritt, merkte, dass ihm keinerlei Konsequenzen drohten. Vielleicht, weil er nicht anders konnte, als die Spirale der Gewalt immer weiter zu beschleunigen.
Ich denke, ich habe diese Zeit nur deswegen überstanden, weil ich diese Erlebnisse von mir abgespalten habe. Nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung, wie sie ein Erwachsener treffen würde, sondern aus kindlichem Überlebensinstinkt. Ich verließ meinen Körper, wenn der Täter ihn traktierte, und sah von weitem zu, wie das zwölfjährige Mädchen am Boden lag und mit Tritten bearbeitet wurde.
Es ist bis heute so, dass ich diese Übergriffe nur aus der Distanz aufzählen kann, als wären sie nicht mir zugestoßen, sondern jemand anderem. Ich erinnere mich lebhaft an die Schmerzen, die ich während der Schläge spürte, und an die Schmerzen, die mich über Tage begleiteten. Ich erinnere mich daran, dass ich so viele Blutergüsse hatte, dass es keine Position mehr gab, in der ich schmerzfrei liegen konnte. Ich erinnere mich an die Qual, die mir das an manchen Tagen bereitete, und daran, wie lange mir das Schambein nach einem Tritt schmerzte. An die Hautabschürfungen, die Platzwunden. Und an das Knacken in meiner Halswirbelsäule, als er mir einmal mit voller Wucht die Faust gegen den Kopf schlug.
Aber emotional fühle ich nichts.
Das einzige Gefühl, das ich nicht abspalten konnte, war die Todesangst, die mich in diesen Augenblicken ergriff. Sie biss sich in meinem Kopf fest, mir wurde schwarz vor Augen, meine Ohren rauschten, das freigesetzte Adrenalin raste durch meine Adern und befahl mir: Flucht! Aber ich konnte nicht. Das Gefängnis, das anfangs nur ein äußeres gewesen war, hielt nun auch mein Inneres gefangen.
Bald genügten schon erste Anzeichen, dass der Täter jeden Augenblick zuschlagen könnte, dass mein Herz zu rasen begann, die Atmung flach wurde und ich in Schockstarre verfiel. Selbst wenn ich in meinem vergleichsweise sicheren Verlies saß, ergriff mich Todesangst, sobald ich in der Ferne hörte, dass der Täter den Tresor vor dem Durchschlupf aus der Wand schraubte. Das Gefühl der Panik, das der Körper nach einer Erfahrung mit Todesangst gespeichert hat und bei den kleinsten Anzeichen einer ähnlichen Bedrohung abruft, ist nicht kontrollierbar. Es hielt mich mit eisernem Griff fest.
Nach etwa zwei Jahren, ich war 14, begann ich mich zu wehren. Zuerst war es eine Art passiver Widerstand. Wenn er mich anbrüllte und ausholte, schlug ich mir so lange selbst ins Gesicht, bis er mich bat aufzuhören. Ich wollte ihn zwingen hinzusehen. Er sollte sehen, wie er mich behandelte, er sollte die Schläge, die ich bislang aushalten musste, selbst aushalten. Kein Eis mehr, keine Gummibärchen.
Mit 15 schlug ich zum ersten Mal zurück. Er blickte mich erstaunt und etwas ratlos an, als ich ihm in den Bauch boxte. Ich fühlte mich kraftlos, mein Arm bewegte sich viel zu langsam und der Faustschlag fiel zögerlich aus. Aber ich hatte mich gewehrt. Und schlug noch einmal zu. Er packte mich und nahm mich in den Schwitzkasten, bis ich aufhörte.
Natürlich hatte ich körperlich keine Chance gegen ihn. Er war größer, stärker, fing mich mühelos ab und hielt mich auf Distanz, so dass meine Fausthiebe und Tritte meist ins Leere gingen. Für mich war es trotzdem überlebenswichtig, dass ich mich wehrte. Damit bewies ich mir, dass ich stark war und den Respekt vor mir selbst nicht verloren hatte. Und ihm zeigte ich, dass es Grenzen gab, deren Überschreitung ich nicht länger hinnehmen wollte. Für meine Beziehung zum Täter, zu dem einzigen Menschen in meinem Leben und meinem einzigen Versorger, war das ein entscheidender Moment. Wer weiß, wozu er noch fähig gewesen wäre, wenn ich mich nicht gewehrt hätte.
Mit dem Einsetzen meiner Pubertät begann auch der Terror mit dem Essen. Der Täter brachte mir ein- bis zweimal die Woche eine Waage ins Verlies gestellt. Ich wog damals 45 Kilo und war ein rundliches Kind. In den nächsten Jahren wuchs ich - und nahm langsam ab.
Nach einer Phase der relativen Freiheit beim »Bestellen« meines Essens hatte er schon im ersten Jahr allmählich die Kontrolle übernommen und mir befohlen, mir mein Essen gut einzuteilen. Neben Fernsehverbot war Essensentzug eine seiner effektivsten Strategien gewesen, mich auf Spur zu halten. Doch als ich zwölf wurde und körperlich einen Schub machte, verknüpfte er die Rationierung der Essensmenge mit Beleidigungen und Vorwürfen.
»Sieh dich doch mal an. Du bist dick und hässlich.«
»Du bist so verfressen, du isst mir noch die Haare vom Kopf.«
»Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen.«
Seine Worte trafen mich wie Pfeile. Ich war schon vor der Gefangenschaft kreuzunglücklich mit meiner Figur gewesen, die mir das größte Hindernis auf dem Weg zu einer sorgenfreien Kindheit schien. Das Bewusstsein, dick zu sein, füllte mich mit nagendem, zerstörerischem Selbsthass. Der Täter wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, um mein Selbstvertrauen zu treffen. Und er drückte gnadenlos zu.
Gleichzeitig ging er dabei so geschickt vor, dass ich ihm in den ersten Wochen und Monaten beinahe dankbar war für seine Kontrolle. Er half mir schließlich dabei, eines meiner größten Ziele zu erreichen: schlank zu sein. »Nimm dir einfach ein Beispiel an mir, ich brauche fast kein Essen«, erklärte er mir immer wieder. »Du musst das wie eine Kur begreifen.« Und tatsächlich konnte ich beinahe dabei zusehen, wie ich Fett verlor und schlank und sehnig wurde. Bis die angeblich wohlmeinende Essenskontrolle in einen Terror überging, der mich mit 16 an den Rand des Hungertodes brachte.
Heute denke ich, der Täter, der extrem schlank war, hatte wohl selbst mit einer Magersucht zu kämpfen, die er nun auch auf mich übertrug. Er war erfüllt von tiefem Misstrauen gegenüber Lebensmitteln jeglicher Art. Er traute der Nahrungsmittelindustrie jederzeit einen kollektiven Mord mit vergiftetem Essen zu. Er verwendete keine Gewürze, weil er gelesen hatte, dass diese zum Teil aus Indien kommen und dort bestrahlt werden. Dazu kam sein Geiz, der im Laufe meiner Gefangenschaft immer krankhafter wurde. Selbst Milch war ihm irgendwann zu teuer.
Meine Essensrationen reduzierten sich dramatisch. Ich bekam in der Früh eine Tasse Tee und zwei Esslöffel Müsli mit einem Glas Milch oder eine Scheibe Guglhupf, die oft so dünn war, dass man die Zeitung durch sie hätte lesen können. Süßigkeiten gab es nur noch nach schlimmen Misshandlungen. Zu Mittag und am Abend bekam ich die Viertelportion eines »Erwachsenentellers«. Wenn der Täter mit dem vorgekochten Essen seiner Mutter oder einer Pizza ins Verlies kam, galt die Faustregel: drei Viertel für ihn, eins für mich. Wenn ich selbst im Verlies kochen musste, listete er mir vorher auf, was ich zu mir nehmen durfte. 200 Gramm gekochtes Tiefkühlgemüse oder ein halbes Fertiggericht. Dazu eine Kiwi und eine Banane pro Tag. Brach ich seine Regeln und aß mehr als vorgesehen, musste ich mit Wutanfällen rechnen.
Er hielt mich dazu an, mich täglich zu wiegen, und kontrollierte akribisch die Notizen über meinen Gewichtsverlauf. »Nimm dir ein Beispiel an mir.«
Ja, nimm dir ein Beispiel an ihm. Ich bin so verfressen. Ich bin viel zu dick. Das dauernde, nagende Hungergefühl blieb.
Noch ließ er mich nicht über lange Phasen ganz ohne Essen im Verlies - das kam erst später. Aber die Folgen der Unterernährung machten sich bald bemerkbar. Hunger beeinträchtigt das Gehirn. Wenn man zu wenig zu essen bekommt, kann man an nichts anderes mehr denken als: Wo bekomme ich den nächsten Bissen her? Wie könnte ich mir ein Stück Brot erschleichen? Wie kann ich ihn so manipulieren, dass er mir von seiner Drei-Viertel-Portion wenigstens einen Bissen mehr abgibt? Ich dachte nur noch an Essen und machte mir gleichzeitig Vorwürfe, dass ich so »verfressen« war.
Ich bat ihn, mir Werbeprospekte von Supermärkten ins Verlies zu bringen, die ich hingebungsvoll durchblätterte, wenn ich allein war. Nach einer Weile entwickelte ich daraus ein Spiel, das ich »Geschmäcker« nannte: Ich stellte mir etwa ein Stück Butter auf der Zunge vor. Kühl und fest, langsam schmelzend, bis der Geschmack die ganze Mundhöhle einnimmt. Dann schaltete ich um auf Grammelknödel: Ich biss in Gedanken hinein, spürte die Knödelmasse zwischen den Zähnen, die Füllung aus knusprigem Speck. Oder Erdbeeren: der süße Saft auf den Lippen, das Gefühl der kleinen Körner am Gaumen, die leichte Säure an den Seiten der Zunge.
Ich konnte dieses Spiel stundenlang spielen und wurde so gut darin, dass es sich beinahe anfühlte wie echtes Essen. Doch meinem Körper brachten die imaginären Kalorien nichts. Immer öfter wurde mir schwindlig, wenn ich beim Arbeiten plötzlich aufstand, oder ich musste mich setzen, weil ich so schwach war, dass meine Beine mich kaum trugen. Mein Magen knurrte andauernd und war manchmal so leer, dass ich mit Krämpfen im Bett lag und versuchte, ihn mit Wasser zu beruhigen.
Ich brauchte lange, bis ich begriff, dass es dem Täter weniger um meine Figur ging, sondern darum, mich durch den Hunger schwach und unterwürfig zu halten. Er wusste genau, was er tat. Sein eigentliches Motiv verbarg er, so gut es ging. Nur manchmal fielen entlarvende Sätze wie: »Du bist schon wieder so aufmüpfig, ich gebe dir wohl zu viel zu essen.« Wer nicht genug zu essen hat, kann kaum noch geradeaus denken. Geschweige denn an Rebellion oder Flucht.
Eines der Bücher im Regal im Wohnzimmer, auf das der Täter besonderen Wert legte, war »Mein Kampf« von Adolf Hitler. Er sprach oft und mit Bewunderung von Hitler und meinte: »Der hatte recht mit der Judenvergasung.« Sein politisches Idol der Gegenwart war Jörg Haider, der Rechtsaußen-Führer der Freiheitlichen Partei Österreichs. Priklopil zog gerne über Ausländer vom Leder, die er im Slang der Donaustadt »Tschibesen« nannte - ein Wort, das mir von den rassistischen Tiraden der Kunden in den Geschäften meiner Mutter vertraut war. Als am n. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, freute er sich diebisch: Er sah »die amerikanische Ostküste« und »das Weltjudentum« getroffen.
Auch wenn ich ihm die nationalsozialistische Einstellung nie ganz abnahm - sie wirkte aufgesetzt, wie nachgeplapperte Parolen -, gab es etwas, das er ganz tief verinnerlicht hatte. Ich war für ihn jemand, über den er so verfügen konnte, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Er fühlte sich als Herrenmensch. Ich war der Mensch zweiter Klasse.
Und dazu wurde ich nun auch äußerlich.
Von Anfang an musste ich jedes Mal, wenn er mich aus dem Verlies holte, meine Haare unter einer Plastiktüte verbergen. Der Putzwahn des Täters vermischte sich mit seinem Verfolgungswahn. Jedes einzelne Haar war eine Bedrohung für ihn - es könnte die Polizei, so sie denn auftauchte, auf meine Spur und ihn ins Gefängnis bringen. Ich musste also meine Haare mit Klemmen und Spangen zusammenstecken, den Plastiksack aufsetzen und ihn mit einem breiten Gummiband festbinden. Wenn sich beim Arbeiten eine Strähne löste und mir ins Gesicht fiel, stopfte er sie mir sofort unter die Plastikhaube zurück. Jedes Haar, das er von mir fand, verbrannte er mit dem Lötkolben oder dem Feuerzeug. Nach dem Duschen fischte er akribisch jedes einzeln aus dem Abfluss und schüttete eine halbe Flasche ätzenden Rohrreiniger hinterher, um selbst im Kanal alle Spuren von mir zu beseitigen.
Ich schwitzte unter der Tüte, alles juckte. Auf meiner Stirn hinterließen die Aufdrucke der Tüten gelbe und rote Streifen, die Klammern gruben sich in meine Kopfhaut, überall hatte ich rote, juckende Stellen. Wenn ich über diese Qual klagte, zischte er mich an: »Wenn du eine Glatze hättest, wäre dein Problem gelöst.«
Ich weigerte mich lange. Haare sind ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeit - es schien mir, als würde ich ein zu großes Stück von mir opfern, wenn ich sie abschnitt. Aber eines Tages hielt ich es nicht mehr aus. Ich nahm die Haushaltsschere, die ich zwischenzeitlich erhalten hatte, griff seitlich in meine Haare und schnitt Strähne für Strähne ab. Ich brauchte wohl über eine Stunde, bis alles so kurz war, dass mein Kopf nur noch von einem struppigen Rest bedeckt war.
Der Täter vollendete das Werk am nächsten Tag. Mit einem Nassrasierer schabte er mir die letzten Haare vom Kopf. Ich hatte eine Glatze. Diese Prozedur wiederholte sich während der nächsten Jahre regelmäßig, wenn er mich in der Badewanne abduschte. Nicht das kleinste Härchen durfte übrigbleiben. Nirgends.
Ich muss ein erbärmliches Bild abgegeben haben. Meine Rippen standen weit hervor, meine Glieder waren von blauen Flecken übersät, meine Wangen eingefallen.
Der Mann, der mir das angetan hatte, fand offenbar Gefallen an diesem Anblick. Denn er zwang mich von nun an, im Haus halbnackt zu arbeiten. Meist trug ich eine Kappe und eine Unterhose. Manchmal auch ein T-Shirt oder Leggings. Aber nie war ich vollständig bekleidet. Wahrscheinlich bereitete es ihm Vergnügen, mich auf diese Art zu demütigen. Sicher aber war es auch eine seiner perfiden Maßnahmen, die mich von einer Flucht abhalten sollten. Er war überzeugt, ich würde mich nicht trauen, halbnackt auf die Straße zu laufen. Und behielt damit recht.
Mein Verlies bekam in dieser Zeit eine Doppelrolle. Ich fürchtete es zwar immer noch als Gefängnis, und die vielen Türen, hinter denen ich weggesperrt war, trieben mich in klaustrophobische Zustände, in denen ich halb wahnsinnig die Ecken nach einer winzigen Ritze absuchte, durch die ich heimlich einen Gang nach draußen graben konnte. Es gab keine. Gleichzeitig wurde meine winzige Zelle zum einzigen Ort, an dem ich weitgehend vor dem Täter sicher war. Wenn er mich gegen Ende der Woche hinunterbrachte und mit Büchern, Videos und Essen versorgte, wusste ich, dass ich nun wenigstens drei Tage lang von Arbeit und Misshandlungen verschont blieb. Ich räumte auf, putzte und richtete mich auf einen gemütlichen Fernsehnachmittag ein. Oft aß ich schon am Freitagabend fast die gesamten Vorräte für das Wochenende auf. Ein Mal einen vollen Magen zu haben ließ mich vergessen, dass ich danach noch schlimmer würde hungern müssen.
Anfang 2000 bekam ich ein Radio, mit dem ich österreichische Sender empfangen konnte. Er wusste, dass man zwei Jahre nach meinem Verschwinden die Suche nach mir aufgegeben hatte und das Medieninteresse abgeflaut war. Er konnte es sich nun also leisten, mich auch Nachrichten hören zu lassen. Das Radio wurde zu meiner Nabelschnur in die Welt, die Moderatoren zu meinen Freunden. Ich konnte genau sagen, wann jemand Urlaub machte oder in Pension ging. Über die Sendungen, die im Kulturradio Ol liefen, versuchte ich mir ein Bild von der Welt draußen zu machen. Mit FM4 lernte ich etwas Englisch. Wenn ich drohte, den Bezug zur Realität zu verlieren, retteten mich banale Sendungen im O3-Wecker, in denen Menschen von ihren Arbeitsplätzen aus anriefen und sich Musik für den Vormittag wünschten. Manchmal hatte ich das Gefühl, auch das Radio sei Teil einer Inszenierung, die der Täter rund um mich aufgebaut hatte und in der alle mitspielten - Moderatoren, Anrufer und Nachrichtensprecher eingeschlossen. Aber wenn dann etwas Überraschendes aus dem Lautsprecher kam, holte mich das wieder auf den Boden.
Das Radio war vielleicht mein wichtigster Begleiter in diesen Jahren. Es vermittelte mir die Sicherheit, dass es neben meinem Martyrium im Keller eine Welt gab, die sich weiter drehte - und in die es sich lohnte, eines Tages zurückzukehren.
Meine zweite große Leidenschaft wurde Science-Fiction. Ich las Hunderte Perry-Rhodan- und Orion-Hefte, in denen die Helden durch ferne Galaxien reisten. Die Möglichkeit, von einem Augenblick zum nächsten Raum, Zeit und Dimension zu wechseln, faszinierte mich zutiefst. Als ich mit zwölf einen kleinen Thermo-Papier-Drucker bekam, begann ich, selbst einen Science-Fiction-Roman zu schreiben. Die Figuren waren an die Mannschaft der Enterprise (Next Generation) angelehnt, aber ich verwendete viele Stunden und viel Mühe darauf, besonders starke, selbstbewusste und unabhängige Frauencharaktere auszuarbeiten. Das Erfinden von Geschichten rund um meine Figuren, die ich mit den abenteuerlichsten technischen Neuerungen ausstattete, rettete mich über Monate hinweg durch die dunklen Nächte im Verlies. Die Worte wurden für Stunden zu einer schützenden Hülle, die sich um mich legte und in der mir nichts und niemand etwas anhaben konnte. Heute sind von meinem Roman nur leere Seiten geblieben. Noch während meiner Gefangenschaft wurden die Buchstaben auf dem Thermopapier immer blasser, bis sie ganz verschwanden.
Es müssen wohl die vielen Serien und Bücher voller Zeitreisen gewesen sein, die mich auf die Idee brachten, selbst eine solche Zeitreise zu unternehmen. An einem Wochenende, ich war gerade zwölf, packte mich das Gefühl der Einsamkeit so stark, dass ich Angst hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich war schweißgebadet aufgewacht und in völliger Dunkelheit vorsichtig die schmale Leiter meines Hochbetts nach unten gestiegen. Die freie Bodenfläche im Verlies war auf zwei oder drei Quadratmeter zusammengeschrumpft. Ich taumelte orientierungslos im Kreis herum, stieß immer wieder gegen Tisch und Regal. Out of Space. Allein. Ein geschwächtes, hungriges und verängstigtes Kind. Ich sehnte mich nach einem Erwachsenen, nach einem Menschen, der mich rettete. Aber es wusste ja niemand, wo ich war. Die einzige Möglichkeit, die ich hatte, war, mir selbst dieser Erwachsene zu sein.
Ich hatte früher schon Trost darin gefunden, mir vorzustellen, wie meine Mutter mir Mut zusprach. Wie ich in ihre Rolle schlüpfte und versuchte, ein bisschen von ihrer Stärke auf mich zu übertragen. Nun stellte ich mir die erwachsene Natascha vor, die mir half. Mein eigenes Leben lag vor mir wie ein leuchtender Zeitstrahl, der weit in die Zukunft reichte. Ich selbst stand auf Ziffer zwölf. Weit vor mir aber sah ich mein eigenes 18-jähriges Ich. Groß und stark, selbstbewusst und unabhängig wie die Frauen in meinem Roman. Mein zwölfjähriges Ich bewegte sich auf dem Strahl langsam nach vorne, mein erwachsenes Ich kam mir entgegen. In der Mitte reichten wir uns die Hand. Die Berührung war warm und weich und gleichzeitig fühlte ich, wie sich die Kraft meines großen Ich auf das kleine übertrug. Die große Natascha nahm die kleine, der nicht einmal ihr Name geblieben war, in den Arm und tröstete sie. »Ich werde dich da rausholen, das verspreche ich dir. Jetzt kannst du nicht fliehen, du bist noch zu klein. Aber mit 18 werde ich den Täter überwältigen und dich aus dem Gefängnis holen. Ich lasse dich nicht allein.«
In dieser Nacht schloss ich einen Vertrag mit meinem eigenen, späteren Ich. Ich habe mein Wort gehalten.